Die Rückseite der Ilm

Ich stelle mir manchmal vor, ich hätte einen Reset-Knopf zur Verfügung, so einen kleinen, grünen hinterm Ohr. Den dürfte ich ein einziges Mal betätigen, danach verschwände er. Ein einziges Mal könnte ich so bei Null beginnen und würde, in der Zeit zurückversetzt, noch einmal geboren. Der Clou ist, ich dürfte dabei alles Wissen und alle Erfahrung, die ich bisher angesammelt habe, behalten. Natürlich würde einem die doppelt gelebte Zeit am Ende abgezogen, so viel muss es einem Wert sein. Also, wenn man zum Beispiel als Fünfzigjähriger zurückspringt, muss man damit rechnen, in seinem zweiten Leben nicht wahnsinnig alt zu werden. Das ist aber schon der einzige Haken.

Die Klosterfrauen im Geisenfelder Kindergarten würde ich mit Feuerbach, Marx und Nietzsche traktieren, bis sie mich beknien würden, damit aufzuhören. Lustvoll stelle ich mir vor, der Star, das Wunderkind, der Mozart der Grundschule zu sein. Ein bisschen kindisch, ein bisschen beschränkt, ein bisschen peinlich vielleicht, dass sich meine Vorstellungskraft gerade darauf richtet, hihi. Aber die Gesichter meiner Lehrerinnen möchte ich sehen, wenn ich ihnen andauernd mit meinen neunmalklugen, ironischen Antworten daherkäme. Ich würde von Anfang an Radl fahren können und essen mit Messer und Gabel und schwimmen und einen Computer programmieren und fotografieren und, und, und.

Ich würde sehr gescheite Sachen sagen, über die man lange nachdenken muss, bis man etwas drauf erwidern kann. Ich wäre das unschuldige Kind, das die ganze verlogene und verdorbene Erwachsenenwelt demaskiert und – wie heißt es immer in pädagogischen Aufsätzen – „hinterfragt“. Hach, wäre das schön, von allen dafür bewundert zu werden. Man würde ja auch viel weniger falsch machen – oder, hoppla, vielleicht gibt es doch einen zweiten Haken: Man würde anstatt der alten Fehler neue, erwachsenenhafte Fehler machen, weil man ja im Kern ein Erwachsener wäre. Fehler, auf die ein Kind gar nicht gekommen wäre. Mit vermutlich tragischen Auswirkungen.

Man würde ja auch viel Neid auf sich ziehen und müsste deshalb vielleicht von der Polizei beschützt werden. Dafür könnte man sich aber im Nebenjob als Wahrsager für weltpolitische Großereignisse gut was hinzuverdienen. Aber je mehr Katastrophen dank meiner Prophezeiungen verhindert würden, desto weniger gliche die Welt der, die ich von früher kannte, und es würden also immer weniger meiner Vorhersagen zutreffen und am Ende wahrscheinlich gar keine mehr. Also auch blöd.

Und natürlich würde ich meine Frau wieder kennen lernen wollen, aber ich fürchte, es wäre wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Mit viel mehr Lebenserfahrung und entsprechend robusterem Selbstbewusstsein käme ich viel weniger täppisch daher, also geradezu aalglatt, und dann würde sie mich vielleicht nicht mehr wollen, weil es ja auch Betrug wäre, irgendwie, an ihr, und weil sie ja gar nicht auf so einen abgebrühten Kerl stand, sondern offensichtlich auf genau so einen verträumten Tollpatsch mit weißen Turnschuhen und löchrigem Guns’n‘Roses-T-Shirt, wie ich damals einer war.

Außerdem hätten andere wahrscheinlich dann auch diesen grünen Knopf. Und in jeder Schulklasse säßen dann so sieben, acht Supergenies, von denen man selbst eines wäre, und dann wäre es längst nicht so spaßig, und die Lehrer würden sich drauf einstellen, und sie würden einfach hinter dem Ohr nachsehen, ob der grüne Knopf noch da ist, und es würde dann immer öfter heißen: Ja, wie jetzt, du machst das alles zum zweiten Mal und kannst es immer noch nicht? Beziehungsweise würde man für die speziellen Kinder einfach spezielle Anforderungen erfinden, und der Spaß wäre schnell vorbei.

Meine neunjährige Tochter fügt noch hinzu, wenn sie noch einmal vier wäre, würde sie nicht das Zauberpony-Haus mit der Blüte drauf und der Spiralrutsche haben wollen. Sondern was anderes. Einen kleinen Hund. In einer Villa. Mit einer Rolltreppe.

von Roland Scheerer