Der ungestillte Bildungshunger der alten Garde

Die überaus pessimistische Erkenntnis des allzu gelehrten Magisters Dr. Faust in Goethes gleichnamiger Tragödie „Und sehe, dass wir nichts wissen können!“ hält sie jedenfalls auch im Ruhestand nicht davon ab, jährlich eine Bildungsreise zu unternehmen. Zum achten Mal hat Peter Feßl heuer für seine pensionierten Kolleg(inn)en des Schyren-Gymnasiums samt Ehepartner eine mehrtägige Fahrt organisiert und sie als Reiseleiter in das Länderdreieck „Bayern – Thüringen – Hessen“ geführt.

„Deutschlands Mitte – Das Grüne Band samt Luther, Bach und Goethe“ lautete das verheißungsvolle Thema dieser Exkursion mit ihrer ökologischen, kultur- und zeitgeschichtlichen Dimension. Dass dabei auch der gesellige Teil nicht zu kurz kam, versteht sich. Handelt es sich doch bei dieser Reisegesellschaft um langjährige Schicksalsgefährten, die ihr Beruf zu Verbündeten mit gleichen Anliegen und Idealen gemacht hat. Und wie es sich für richtige Schulmeister geziemt: Auch geistige Arbeit enthielt die Tagesordnung! Peter Feßl schuf sich bei seinen vielfältigen Aufgaben, zu denen die Kommentare zu seinem massenhaft verteilten Informationsmaterial gehörten, dadurch ein wenig Entlas-tung, dass er die fachliche Qualifikation von Kollegen nützte. Während der Fahrt nach Eisenach und zur Wartburg führte Manfred Leeb an Hand von Portraits bedeutender Persönlichkeiten epochale kunstgeschichtliche Phänomene vor Augen, Hellmuth Inderwies referierte über den „historischen Kontext der Reformation: Hintergründe und Ursachen“ und Wolfgang Zeilhofer erläuterte sehr eingehend vor einer Wanderung auf dem Naturlehrpfad des Schwarzen Moors in der Hoch-rhön die biologischen Besonderheiten eines Hochmoors.

Erstes Ziel war das deutsch-deutsche Grenzlandmuseum in Mödlareuth, jenem „little berlin“, wie es die Amerikaner einst nannten, weil es ebenso wie die einstige Reichshauptstadt zum Symbol deutscher Teilung nach dem 2. Weltkrieg wurde. Hatte man hier mit dem Checkpoint Charly wenigstens noch einen Grenzübergang für Privilegierte beider Seiten, so gab es in dem durch den „Eisernen Vorhang“ geteilten Dorf mit seinen heute 50 Einwohnern 37 Jahre lang keine Möglichkeit, auf legalem Weg von einem in den anderen Ortsteil zu gelangen. Eine sehr anschauliche Führung vermittelte Alltag und Lebensgefühl der auf diese Weise getrennten Familien, Freunde und Bekannten, denen es sogar verboten war, sich aus der Ferne zuzuwinken oder zu grüßen. Die historische Grenze zwischen der Markgrafschaft Bayreuth, die 1803 dem bayerischen Staat zufiel, und der Grafschaft Reuß-Schleiz, später zu Thüringen gehörend, bestimmte auf paradoxe Weise das Schicksal der Dorfgemeinschaft. Der Tannbach, der mitten durch den Ort fließt, und als Landesgrenze hin zu Bayern lediglich eine Verwaltungsgrenze darstellt, bildete 1945 zunächst die Grenze zwischen den Besatzungszonen der alliierten Siegermächte, dann 1949 die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und war Leitlinie für den ab 1952 von der DDR gebauten „Eisernen Vorhang“.

Bei Betreten eines 10 m breiten verminten Kontrollstreifens galt der Schießbefehl. Nächtliche Ausgangssperre (ab 22.00 Uhr) und Versammlungsverbot, Zwangsaussiedlung in 
das Hinterland unter dem Decknamen „Ungeziefer“ und ständige Perfektionierung der Grenzsperranlagen hin zu einer Betonmauer mit Stacheldraht und Selbstschussanlage gehörten zum widersinnigen Erscheinungsbild. Die einzige Flucht über sie nach dem Westen war 1973 einem Kraftfahrer mit Hilfe einer Leiter über das Dach seines Autos geglückt. Unterschiedliche Postleitzahlen, Fahrzeugkennzeichen und Telefonvorwahlen in Mödlareuth sind auch heute noch Ausdruck der historisch entstandenen Verwaltungsgrenze zwischen Bayern und Thüringen, die mitten durch das wiedervereinigte Dorf verläuft.
Von der bedrückenden Atmosphäre, die die „deutsch-deutsche Geschichte“ in der kleinen, heute stark frequentierten Ansiedlung vermittelt, sollte auf dem Weg zum Wintersportzentrum Oberhof, dem Standort der Reise, wohl die Farbenpracht einer Märchenwelt ein wenig ablenken.

inderwies_bild2

In braune und rote Pelerinen gehüllt, stieg die Lehrerschaft hinab in die Feengrotten von Saalfeld, ein vor Zeiten aufgelassenes Bergwerk, in dem man einst Alaunschiefer abbaute. Nach seiner Wiederentdeckung 1914 tat sich dem Besucher das Naturwunder einer bunten Tropfsteinhöhle auf. Zuvor wurde die vollzählige Gruppe vorsichtshalber auf ein Foto gebannt, für den Fall, dass einer der Magie dieses bizarren Reiches verfallen sollte. Aber Pädagogen dieser Altersstufe sind abgeklärt genug, um solchen Versuchungen zu widerstehen. Für sie war eher das UNESO-Weltkulturerbe der Wartburg ein Magnet. Nach der Reichsacht diente sie Martin Luther für ein Jahr als einem inkognito hier Lebenden als Refugium. Kurfürst Friedrich der Weise hatte ihn, der sich fortan „Junker Jörg“ nannte und einen Bart wachsen ließ, am 4. Mai 1521 hierher bringen lassen. In dieser Zeit übersetzte er das Neue Testament für das Volk ins Deutsche und leistete damit zugleich einen wesentlichen Beitrag zu einer deutschen Einheitssprache. Nie ist er wieder an diesen von ihm wenig geliebten Ort zurückgekehrt.

inderwies_bild1

Johann Sebastian Bachs Leitspruch „Alles, was man tun muss, ist, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen“ galt auch ohne Einschränkung für das folgende vielfältige Programm dieser geselligen Bildungsreise: Besuch seines Geburtshauses und Museums in Eisenach mit Demonstration typischer Tasteninstrumente seiner Zeit, Orgelführung und Konzert durch Kantor Jörg Reddin in der „Bach-Kirche“ in Arnstadt, dem Ort seiner ersten Anstellung als Organist, der allerdings – nur nach dem subjektiven Geschmack des Konsistoriums! – hier wohl nicht immer mit den richtigen Tasten die von ihm erwarteten Töne erzeugte und Abschied nehmen musste. Konsequenterweise folgte für die Gruppe der Wechsel von der musischen Kunst hin zur Natur, zum „Grünen Band“, einst jener Todesstreifen des „Eisernen Vorhangs“, der Deutschland bis 1989 teilte. Heute präsentiert er sich als umweltfreundlicher, zwischen 50 und 200 Meter breiter und 1393 Kilometer langer Gürtel, der von der Lübecker Bucht bis in das Dreiländereck Bayern-Sachsen-Böhmen reicht. Ihm hat die Natur das Leben zurückgegeben, und er ist zugleich ein Denkmal deutscher und europäischer Geschichte. Die Werraschleife gab ein augenscheinliches Beispiel hierfür.
Wenn Oberhof als Standort der Tagesausflüge gewählt wurde, dann sicherlich nicht nur wegen seiner zentralen Lage!

Peter Feßls Programm enthielt auch Maßnahmen zur Steigerung der körperlichen Fitness seiner Kolleg(inn)en. Er hatte hierfür mit Brigitte Wiegand eine staatlich geprüfte Gästeführerin verpflichtet, die ihnen die sportlichen Möglichkeiten ihrer berühmten Heimatstadt allein auf einem gestreckten Marsch zu den Wintersportanlagen für Skisprung, Nordische Kombination, Biathlon, Bob fahren und Rodeln sehr praxisnah ausloten ließ, bevor man sich auf den Spuren Goethes zum 978 Meter hohen Schneekopf begab, wo der deutsche Dichterfürst einst geologische und mineralogische Gegebenheiten untersuchte. „Es muss nicht immer Weimar sein!“ lautete das Motto.

inderwies_bild3

Den sportlichen Auslauf schließlich bildete auf der Heimfahrt die Wanderung auf dem Lehrpfad durch das „Schwarze Moor“. Als ein „Schaufenster der Natur“ mit seiner Vielfalt sehr seltener Pflanzen und Tiere gehört es als eines der bedeutendsten Hochmoore Mitteleuropas zum UNESCO-Biosphärenreservat Rhön. Nach derart zahlreichen und vielfältigen Eindrücken konnte die alte Garde der pensionierten Gymnasiallehrer/innen des Schyren-Gymnasiums auf der Heimfahrt in der Kirchenburg in Ostheim und in Vierzehnheiligen, das zum sog. „Gottesgarten“ des oberen Maintals gehört, wieder ihr seelisches Gleichgewicht gewinnen. Das historische Wirtshaus „Goldener Hirsch“ trug als Epilog dazu bei.

von Hellmuth Inderwies